Tor Seidel hatte in Peking 1999 als Fotograf die Gelegenheit, die Inszenierungen zum Nationalfeiertag zu beobachten: Auf dem Platz des himmlischen Friedens wurde der 50. Jahrestag der Ausrufung der Volksrepublik durch Mao Zedong mit militärischen Zeremonien gefeiert. Zuvor hatte man die Steine des Platzes ausgewechselt, ein Akt der mit dem Geschehen des Massakers 10 Jahre zuvor in Zusammenhang steht. Raketen waren in den Himmel geschossen worden, um Regen am Feiertag zu verhindern. Die Anwohner mussten ihre Häuser für 48 Stunden verlassen, öffentliche Telefone wurden abmontiert. Die Bilder, die Tor Seidel im Fernsehen sah, zeigten jubilierende Massen und lächelnde Politiker. Das Erlebte, etwa wütende Anwohner, Festnahmen, die militärische Abriegelung, waren ausgeblendet. Neun Jahre später zeigt das chinesische Fernsehen Bilder aus Lhasa: das Eintreffen des olympischen Feuers, tanzende Tibeterinnen in traditionellen Kostümen, Einheit und Frieden symbolisierend, Militär, den Klosterberg schützend. Was es nicht zeigt, sind die Proteste der Mönche, das reale Leben in den Städten. Die in China erlebte Diskrepanz zwischen Fernsehbild und Wirklichkeit verarbeitet Tor Seidel in der Serie "Beijing Rules", indem er eigene Fotos und Fernsehbilder vermischt und diese digital bearbeitet. Parallel dazu entstand die Skulpturenserie "Vanguard". Diese Figuren sind Rückgriffe auf vorgefundene Klischees aus der Zeit der Kulturrevolution. In Tor Seidels Bildern verändert sich die Aussage, verallgemeinert sich das Spezifische, wird die Masse zum Ornament. In diesem Sinne transformiert "Beijing Rules" die Selbstbildnisse der Macht zu "Chiffren des Mächtigen". Die Ausstellung zeigt 14 Fotografien und 10 Skulpturen. Die Fotografien sind C-Prints in der Größe 80 x 120 cm. Die Skulpturen sind aus gebranntem Ton und Fett.